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The German Angst in Frankreich

Franz Rieder • Zwei Schritte vor, einen zurück.   (Last Update: 22.03.2017)

Über Sartre kam „The German Angst“ nach Frankreich. Diese, nach Heidegger fundamentale Auszeichnung des menschlichen Daseins hat in der Existenzialphilosophie zu einer heftigen Diskussion geführt, die nicht beendet ist, da sie, leider, unaufgeriffen blieb. Wir gehen an dieser Stelle einfach einmal so weit mit der These, dass die Philosophie mit dieser Diskussion auch auf das Erscheinen der Psychoanalyse von Sigmund Freud geantwortet hat. Und sie hat in ihrer eigentlichen Rationalitätskritik Denkmuster der Psychoanalyse unbemerkt aufgenommen, vornehmlich in dem hier zur Diskussion stehen Zusammenhang das Modell der Phasenentwicklung des menschlichen Bewusstseins.

Heidegger bemüht zur Beschreibung dessen, was er Erfahrung nennt, den Ausdruck: Stimmung bzw. Gestimmtheit. Jede Stimmung hebt etwas für uns in eine Bedeutsamkeit. So etwa die Langeweile, die alles, Dinge, Menschen, Möglichkeiten als uninteressant erscheinen lässt und so uns davon von forthält, uns damit zu beschäftigen. Die Stimmung welche das Nichts als solches erschließt, ist für Heidegger die Angst. Und hier schon entzündete sich der o.g. Streit. Denn diese Angst sei ungerichtet, ja unmotiviert.
Sie richtet sich – anders als die Furcht vor etwas – nicht auf etwas bestimmtes, sondern in ihr wird uns unheimlich und die Welt verliert ihre Bedeutsamkeit, sie wird gleichgültig, sie ist „nichts“ für uns.
Wir wollen nun nicht wie vorher auf die Angst als psychologisches Phänomen eingehen, sondern folgen Heideggers Ansatz weiter.

Was Heidegger im Auge hat, ist seine rationalitätskritische Überwindung des Primats des Bewussteins als primären und wesentlichen Akt bzw. Prozess der Welterschließung. Darin ist der Mensch das „Subjekt“, von dem aus er selbst sich die Welt erschließt, sie sich bewusst macht, beherrscht und verändert. Hier liegt auch die moderne Auffassung begründet, dass der Mensch als Individuum Macht in Bezug auf die Welt und andere Menschen hat. Das ist falsch.

Das Nichts, so Heidegger, wird also in dieser existenziellen Angst nicht erfasst vom Menschen, sie geht nicht vom Individuum aus, sondern vielmehr wird der Mensch qua Angst vom Nichts erfasst, begegnet dem Menschen das Nichts in der Angst. Wenn das Nichts als Angst begegnet ist die Angst auf Seiendes angewiesen oder in Worten der Psychologie gesprochen, ist sie exogen. Sie weist nach Heidegger dann auf das in der Unbedeutsamkeit versinkende Seiende, auf eine unspezifische, unbenennbare aber unumgehbare Widerständigkeit, auf das Verschließen und sich Verweigern der Welt, allesamt Grunderfahrungen, welche zum Menschsein gehören. Alle moderieren gewissermaßen als Formen der Grunderfahrung das Nichts in der Angst und als solche ist das Nichts daher für Heidegger auch nichts Abstraktes, sondern eine konkrete Erfahrung, was er umschreibt mit: der Mensch sei in das Nichts „hineingehalten.“

Bis hierhin mag man Heidegger ja noch folgen können, aber je tiefer man sich mit diesem „Nichts“ beschäftigt, um so mehr bedrängt einen des Modell, das das Nichts dann doch keine Erfahrung entlässt. Heidegger wehrt sich gegen die Auffassung, von einer Erfahrung des Nichts zu sprechen. Verständlich aus rationalitätskritischer Hinsicht, dunkel und schleierhaft für den um Verstehen bemühten. Denn eigentlich ist es eine Trivialität, das Angst keine Äußerung eines „Subjekts“ ist, sondern dem Menschen begegnet, eher ereilt. Und dass in der Angst der Mensch „flieht“ ist ebenso trivial. Dass der Mensch von der Welt aber verlassen wird, die Welt vom Menschen abrückt und der Mensch dieser „Nichtung“ der Welt gänzlich machtlos gegenübersteht, kennen wir heute nur als Form der Angst vor der Angst, die den Menschen zu einem Schauplatz, zu einem Treibhaus von Phobien und Schlimmerem werden lässt.

So sei die Angst vor etwas nur möglich, wenn der Mensch „vorher“ schon die Angst als Angst erlebt hat. Als „Abrücken“ der Welt, was Heidegger als „Nichtung“ bezeichnet. „Diese im Ganzen abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen, als welche das Nichts in der Angst das Dasein [d.h. den Menschen] umdrängt, ist das Wesen des Nichts: die Nichtung.“1
Wäre dem also nach dem Phasenmodell der Psychologie so, dann müssten alle Menschen, zeitlich oder ontologisch gesehen, mindestens einmal im Leben durch eine Phase ordentlicher Paranoia mit schweren psychotischen Ausprägungen gegangen sein oder mindestens eine Anzahl neurotischer Angstzustände durchlebt haben. Trivial die Erkenntnis, dass die Stimmung der Angst nichts ist, das man bewusst hervorrufen könnte, sie überfällt einen: „So endlich sind wir, daß wir gerade nicht durch eigenen Beschluß und Willen uns ursprünglich vor das Nichts zu bringen vermögen.“ 2

Betrachtet man diese Stellen aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive, dann entdeckt man schnell, dass es „fatal“ ist, das Nichts aus seiner transzendentalen Bedeutung in den Bereich der Erfahrung zu ziehen. Dann braucht das Nichts die Angst und in ihr ein „Substrat“, ein Seiendes, ohne das die Angst nicht erfahrbar ist. Behauptet man, diese existenzielle Angst ist jenseits der Erfahrung, dann ist sie Nichts, was dasselbe bedeutet. Wenn Sartre das Nichts qua Bewusstsein als Negation in den Erfahrungsraum des Menschen verlegt und dort die unspezifische Angst der Ungewissheit aus der Freiheit des Menschen bestimmt, erkennen wir eine Fortführung der Heideggerschen Existentialphilosophie in Verbindung mit der Hegelschen Transzendentalphilosophie.

Die Frage im übrigen bleibt vorhanden, ob denn mit Heideggers Bemühen, den neuzeitlichen Subjektivismus Hegelscher Prägung zu überwinden mit diesem Denkmodell eines Existentialismus in fundamental-ontologischer Ausprägung auch schon Genüge getan ist. Wir erinnern an dieser Stelle gerne noch einmal daran, dass Hegel die nicht Subjekt-bezogene Welt nur insofern zum Thema seiner Reflexionen gemacht hat, insofern sie dem Denken wie auch immer begegnet. Ihm daraus den Vorwurf machen zu wollen, er hätte das Sein nur insofern betrachtet, als es im begrifflichen Denken bzw. in der Idee vorkommt, ist unbillig, war das doch sein einziges Ansinnen. Für Hegel stand nicht die Frage im Raum, ob wir denken oder die Welt anders erfahren, sondern wenn wir sie denken, wie wir sie denken.

Wie können wir also dieses Abrücken der Welt als Nichtung erfahren? Zunächst einmal, indem wir nicht denken. Gemeint kann damit nur sein, indem wir nicht das Nichts qua Negation in die Welt bringen wie Sartre dies eben vorstellte. Immer wieder insistiert Heidegger darauf, dass die im praktischen Umgang mit der Welt gemachte Erfahrung des Nichts und der Angst keine durch ein Subjekt produzierte ist, was wir hinlänglich schon als nur möglich unter der Bedingung schwerster psychotischer Erkrankung zugebilligt haben.

Heidegger aber insistiert in seiner fundamental-ontologischen Betrachtung – im Gegensatz zu einer transzendentalen Sichtweise – darauf, dass – und hier auch im krassen Gegensatz zu Sartre – das Nichts nicht aus der Verstandesfunktion der Verneinung zu verstehen ist: diese wäre eine jeglichem Weltbezug vorangehende Fähigkeit eines Subjekts. Warum Heidegger so sehr und nachhaltig hier darauf insistiert, dass es vor (zeitlich wie ontologisch) dem selbstreflexiven auch andere Bezüge zur Welt gibt, ist nicht verständlich. Denn niemand bestreitet das, nicht einmal Hegel.

Der Mensch ist für die Verneinung viel mehr auf die ursprünglichere Erfahrung des Nichts angewiesen, denn erst im Vorausblicken auf das Nichts wird die Verneinung möglich. Hier erkennen wir den Kern von „Sein und Zeit“, können aber nicht nachvollziehen, dass die Fähigkeit zur Verneinung etwas und das notwendig mit der Erfahrung der Zeitlichkeit des Daseins zu tun haben soll.

Da auch die Erfahrung nichts ist, das der Mensch herbeiführen kann, sondern es das Nichts ist, das nichtet, entspringt nach Heidegger die Verneinung dem Nichts:
„Das Nicht entsteht nicht durch die Verneinung, sondern die Verneinung gründet sich auf das Nicht, das dem Nichten des Nichts entspringt.“ 3
Hier ist Heideggers Ansatz seltsamerweise wieder synchron mit Hegel, obwohl er ihm gerade das Gegenteil vorgeworfen hat; Sartre hat diesen Gedankengang von Heidegger übernommen, ohne von einer Nichtung sprechen zu müssen.

Die Verwirrungen kommen u.E. vor allem aus der Bestimmung des Begriffs der Erfahrung. Wenn Hegel von Erfahrung spricht, meint er im Rahmen der Logik selbstverständlich eine Erfahrung des Geistes, nicht der Sinne. Wenn von sinnlicher Erfahrung die Rede ist, ganz generell, dann sind Erfahrung nie eine jeglichem Weltbezug vorangehende Fähigkeit eines Subjekts, gleichwohl Erfahrungen auch nie ohne einen sog. Erfahrungshorizont gemacht werden, also mithin von Prägungen von Wahrnehmungen gesprochen werden muss, die ebenso schon darauf verweisen, dass Erfahrungen dem „Subjekt“ in vielfältiger Sicht entgegenkommen, zumindest als ein außerhalb des Denkens liegendes Seiendes.
Wenn also von Erfahrungen die Rede ist, die sich außerhalb von rationalen Reflexionen ergeben, die gemacht werden, ohne sich der Sprache und dem Denken zu erschließen, dann kann von subjektzentrischen Vorgängen allein nicht gesprochen werden.

Wesentlicher noch als dieser Sachverhalt aber ist der Versuch Heideggers, die Grenze zwischen Denken und Erfahrung zu verschieben, indem er die Erfahrung des Nichts in der Angst aus dem Bereich des Seienden in den Bereich des Seins selber verortet sehen möchte. Das Sein und das Nichts aber sind ganz und gar entgegen Heideggers Bestimmung, und wir halten es da mit Hegel und Sartre in einer gewissen Hinsicht, reine Verstandes- bzw. Vernunftbegriffe. Und diese sind ohne Seinserfahrung, einzig Erfahrungen des Denkens selbst. Die reine intellektuelle Vorstellung, dass alles negiert werden kann, also der Begriff des Nichts, trägt als absolute Grenze des Denkbaren jede Negation. Wir wenden uns damit gegen die Vorstellung, das Nichts sei nicht aus der Verstandesfunktion der Verneinung zu verstehen und folgen den Bestimmungen, wie sie im System des Deutschen Idealismus vorgestellt worden sind.

Das Sein und das Nichts sind deshalb auch für uns transzendentale Begriffe, also Grenzen der Bedingung der Möglichkeit des Denkens selbst, außerhalb derer es kein Nichts gibt, das irgendwie nichtet und uns so von der Subjektzentrierung rationalen Denkens befreien würde. Die Vorstellung aber, dass sich die Welt uns entzieht, lassen wir natürlich wie jede andere auch gelten. Was diese Vorstellung eines nichtenden Nichts aber in einen Bedeutungsraum für den hebt, der solchen Vorstellungen anhängt, ist an dieser Stelle nicht unser Thema. Für die Philosophie bedeuten solche Auffassungen keinen wirklichen Fortschritt.


Zwei Schritte vor, einen zurück.


Philosophic Shuffle


Erreicht war bereits die Erkenntnis, dass das Seiende, insofern es auf dessen Gültigkeit und Bedeutung für alle befragt wird, nicht als solches Seiendes im Denken enthalten ist, dort nie als solches anwesend war. Die ontisch-ontologische Differenz galt, war aber nie so deutlich ausgesprochen wie durch Martin Heidegger.

Mit der Kritik am Primat der Rationalität, was etwas anderes ist als Rationalitätskritik, und dem Aufkommen der Psychoanalyse, nach der das Subjekt, hier das Bewusstsein, nicht länger „Herr im eigenen Haus ist“, kam zwangsläufig ein Nachdenken darüber auf, welche anderen Zugänge zur Welt denn dem Menschen offen stehen. Einer der bedeutendsten Wegbereiter, vielleicht sogar erster Vertreter der Existenzphilosophie, war sicherlich Kierkegaard.
Seine Auseinandersetzung mit Hegel und Schopenhauer führte ihn aber zunächst einmal zurück zur Idee des Christentums, verständlich, wenn man den Primat des rationalen Weltbezugs infrage stellt, schwerer nachzuvollziehen, warum die Idee des Christentums (nicht die Realität des christlichen Glaubens in der damaligen Verfassung der Christenheit) die maßgebende Rolle dabei spielte.

Etwa zwei-drittel des gedruckten Werkes von Kierkegaard hat er meist unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht, Ein Drittel besteht aus unter eigenem Namen veröffentlichten Predigten und religiösen Reden. Man mag darin erkennen, welche Bedeutung „das Religiöse“ für ihn hatte, zudem liegt der Bereich des Glaubens doch tranzendent zum Wissen, was ihm entgegenkam.

So war die terminologische Wendung vom Begriff des Lebens zum Begriff der Existenz seit Kierkegaards Schriften auch zugleich eine Wendung, eine Umwendung der Blickrichtung des philosophischen Subjekts hin auf die entscheidende, mithin existentielle Grundproblematik, die Kierkegaard in der grundlegenden Problematik zwischen Dasein und Bewusstsein sah. Diese Blickrichtung wurde zur grundsätzlichen Verfassung existentialistischen Philosophierens, als der Grund ihrer selbst nun die Existenz aus dem irreduziblen Spannungsverhältnis zwischen dem Dasein und dem Bewusstsein davon vorstellte.

Kierkegaards Vorwurf, besonders an Hegel und an seine philosophiegeschichtlichen Vorgänger, dass sie immer nur einseitig entweder vom Sein oder vom Bewusstsein her gedacht hätten, mag man jetzt einmal so stehen lassen, gleichwohl dies nicht zutrifft. Die Grundlegung der menschlichen Existenz aus dem Spannungsverhältnis von Dasein und Bewusstsein ist legitim, wie jede andere Form der Grundlegung auch. Der Schluss, sie sei wesentlich ist damit noch nicht gezogen. Kierkegaard  bestimmt diesen Grund der Existenz nicht aus der Reflexion auf diese Grundlegung selbst, sondern bestimmt Existenz als eine Art Un-grund, als Urgrund, der sich dem Denken gänzlich entzieht. Existenz kommt nun auch noch in den Rang, das einzige zu sein, was sich dem Denken grundsätzlich entzieht, was man nicht denken kann. Gemeint ist natürlich dessen Totalität.

Indem Kierkegaard mit seiner Existenzthese und deren einzig grundloser Verfasstheit für das Denken glaubte, die Grenze scharf zu Hegel gezogen zu haben, holten ihn die Folgen aus seiner (negativen) Hypostasierung Hegelschen Denkens fortan immer wieder ein. Denn Hegel hat kein System von Begriffen, Entitäten gleich wie Naturgesetze und von damals modernen Bestimmungen von Materie in der Physik etabliert – für Hegel war dieses Denken bar jeder Idee, jeder Vernunftidee – hat keine Welt aus Begriffen geschaffen, in der der Mensch wie ein Spiegelbild der Vernunft existierte. Hegel hat im Gegenteil versucht zu zeigen, und dies mit nicht mäßiger Überzeugung, dass es durchaus der Geist ist, der sich seine Welten schafft und eben weil es der Geist ist, er durchaus auch die Möglichkeit besitzt, diese „Schöpfungen“ zu negieren.

Aus dem „sapere aude“ und der aufklärerischen Euphorie, die ja nicht ganz unbegründet war, denkt man an die Zeiten davor zurück, hat sich aber gerade im Deutschen Idealismus Hegelscher Prägung recht schnell ein „unglückliches Bewusstsein“ entwickelt, das dann mit Marx seinen Denker fand. Marx, unverdächtig in euphorischen Idealismen zu schwelgen, hat zuallererst einmal das Hegelsche Denken, dessen Dialektik, gewürdigt 4. Diesen „Ritterschlag“ hat es verdient und die Frage, warum gerade der aufkommende und auch der spätere Existentialismus ihn so vehement verweigert hat, provoziert viele Antworten.

Eine, vielleicht die wesentliche Antwort, liegt darin, dass Kierkegaard nicht erkannt hat, dass mit Hegel die Epoche der Vernunftidee ihren Übergang in die politische Realität der Aufklärung, denn nichts anderes ist Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, erzwungen hat.
Der Zugang zur Welt aus der aufgeklärten Rationalität in die moderne Ökonomie ließ sich weder aufhalten, noch war er ein Zufall der Philosophiegeschichte. Von der aristotelischen Kategorienlehre bis hin zu Hegels absoluter Idee hat im Sinne Hegels die Geschichte der Idee zu sich selbst gefunden. Das Denken wusste nun um seine unbegrenzten Möglichkeiten, ob als Wissenschaft der Natur, der Logik oder als Phänomenologie des Geistes. Ganz gleich, worüber der moderne Geist nachdenken mochte, er würde es in Begriffen tun und in einem fortwährenden Prozess des Denkens, wenn ihm nach Wahrheit im Sinne einer aufgeklärten Wahrheit war, die also Gewissheit im Denken beanspruchte, somit für jedermann gültig und durch jedermann geteilt werden konnte, solange die nun seit Aristoteles entwickelten Sätze der Logik angewandt und das Wesen der seit Platon entwickelten Ideen, also der Metaphysik berücksichtigt würden.

Warum nun gerade der Existentialismus sein Augenmerk auf die Religion und Kierkegaard im Eifer religiöser Erneuerung das Erreichte als Blasphemie beschimpfte, klingt zunächst einmal unverständlich. Dass Kierkegaard für die Revolution von 1848 nur Verachtung übrig hatte und er ganz generell demokratischen Bestrebungen stark misstraute, sich im Allgemeinen nicht für Politik bzw. zeithistorische Ereignisse interessierte, mag als biographischer Hinweis verstanden werden, nicht als Begründung seines Denkens und seiner Rationalitätskritik. Da er zudem reichlich materiell beerbt wirtschaftliche Betätigungen verachtete, zu keinerlei Anstrengungen sich je gezwungen sah, sein ererbtes Vermögen zu mehren oder zumindest dessen Substanz zu erhalten, im Gegenteil, bis 1848 stets auf großem Fuße gelebt und keine eigenen Einnahmen, auch nicht durch seine Bücher, erzielt hatte, wäre eine aristokratische Ideologie vielleicht wahrscheinlich gewesen.

Aber gerade seine beiden Hauptwerke5 erschienen nach 1848 und in der „Krankheit zum Tode“ entwickelte er sein Menschenbild, das geprägt ist von zwei widerstreitenden aber dialektisch aufeinander bezogenen Seiten, nämlich der Notwendigkeit der existenziellen Subsistenzerhaltung und dem Glauben an die ewige Seligkeit. Jene Seite der Subsistenznotwendigkeit menschlicher Existenz im Sinne selbsterhaltender Daseinssorge in den Notwendigkeiten des täglichen Lebens als sterbliches, mängelbehaftetes Wesen, das stets dem Ärgernis der Verzweiflung, Ungerechtigkeit und Verdammnis ausgesetzt ist, hat wohl jenen nachhaltigen Eindruck auf die folgenden Existentialisten gemacht.

Wir meinen zwar, man kann den Idealisten nicht vorwerfen, diese Seite der menschlichen Existenz nicht genug gewürdigt zu haben, ging es doch im wesentlichen diesen darum, das Denken aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Gleichwohl hat Kierkegaard, zwar nicht rationalitätskritisch, aber durch seine Sicht auf die alltägliche Sorge und Nothaftigkeit der menschlichen Existenz einen neuen Fokus im philosophischen Diskurs gelegt.
War in der „Einübung“ das menschliche Leid zwar im Leiden Christi symbolisiert, so hat der Existentialismus unter Weglassung der christlichen Lehre das persönliche Leid des Menschen und seine „materielle“, seine physische Existenz als dessen Existenzgrund von Kierkegaard übernommen.


Romulo rege Sabinae raptae sunt

„Während Romulus König war, wurden die Sabinerinnen geraubt.“

Der Existentialismus steht vor einem neuen Problem. Insofern es um die menschlich Existenz geht, geht es um eine Form des Seins, die zeitlich definiert ist, also zwischen Geburt und Tod verläuft. Allein schon die generationsbiologischen Tatsachen dehnen diesen Zeitbegriff über ihn hinaus und definieren die menschliche Existenz aus einer diese „endliche“ Zeit transzendierende Zeit vor der Geburt und nach dem Tod.
Der Existentialismus muss daher mit einer existenziellen Zeit, der individuellen Lebenszeit und einer historischen Zeit umgehen, was dem Faktum der Existenz enorme geistige Schwerkraft zumutet. Sieht man genauer hin, dann ist schon der Begriff der Existenz insoweit es um menschliche Existenz geht eine hochgradige Abstraktion vom Begriff des menschlichen Daseins. Und insofern diese menschliche Dasein in der Welt stattfindet ist der Begriff des in-der-Welt-seins eine ebensolche Abstraktion vom Begriff der von Menschen gemachten Geschichte.

Aber diesen Abstraktionen zugrunde liegt eine weitere Dimension des begrifflichen Denkens, nämlich die Abstraktionen auf der Ebene von Raum und Zeit. Wir sehen allein bis hierher schon, dass der Vorwurf des Existentialismus in Richtung Bewussteinsphilosophie nicht recht greifen kann, ist doch schon die einfachste Reflexion auf ein in der Welt sich vollziehendes menschliches Dasein kaum ohne hohes Abstraktionsvermögen zu beginnen.

Aber fangen wir mit der zentralen Frage nach der Zeit an. Das menschliche Leben ist, nach Heidegger, in seinem alltäglichsten Tun und Lassen nach der Zeit orientiert. Die wird umso mehr in der Philosophie in den Blick gebracht, je ursprünglicher das menschliche Dasein selbst hinsichtlich seiner Seinscharaktere sichtbar gemacht ist. Die Analyse der Zeit schafft sich das Fundament in einer ontologischen Charakteristik des menschlichen Daseins. Dasein besagt: „In der Welt sein.“ Die Welt ist das Worin solchen Seins. Die Frage nach der Zeit ist also verknüpft mit der Frage nach den ursprünglichsten Seinscharakteren des menschlichen Daseins, die den Charakter des Besorgens, des besorgenden Umgangs ebenso einschließt wie die Grundweise des Miteinander-Seins-in-der-Welt, die Heidegger, stark verkürzt wiedergegeben, wesentlich als das Miteinander-Reden versteht.

Mit der Ausarbeitung des Fundamentalcharakters des „In-der-Welt-Seins“ hebt Heidegger zwei Dinge hervor: die „Welt“ als das Womit des besorgenden Umgangs und das „Man“ als das Seiende des Daseins in der nächsten Alltäglichkeit seines Besorgens.

Bleiben wir noch eine Weile fundamental-ontologisch und scheuen uns nicht vor dieser, auf das Dasein hin gerichteten Seins-Philosophie, dann stellen wir fest, dass Heidegger, übrigens ebenso wie Kierkegaard, von klar umrissenen Vorstellungen von Zeit im Sinne von Zeiträumen (Dasein) und von Epochen (Faktizität der Geschichte) ausgeht. Sein Versuch, in Anlehnung an seinen Lehrer Husserl, die Zeit in dessen Sinne einer Epoché, also in einer Art phänomenologischen Reduktion als erlebte Zeit nicht-intentional zu enthüllen, ändert nichts an der o.g. Voraussetzung. Aber was wäre, wenn Zeit gar nicht so einheitlich wäre? Wenn Zeit dann auch nicht als einheitlich erlebt werden würde?

Ernst Bloch hat unter dem Paradoxon „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ hierfür fundamentale Arbeit geleistet. Was verstand Bloch unter Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen? In „Erbschaft dieser Zeit“ charakterisiert Bloch das so:
„Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nachdem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. (…) Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.“6
Das klingt ein wenig prosaisch und will überhaupt nicht dazu passen, dass Bloch an dieser Stelle eine mögliche Erklärung für das Entstehen des Faschismus im Auge hat. Die Frage war, wenn die Entstehung des Faschismus nicht als Folge geschichtlicher Ursachen erklärt werden kann, was dann?

Für den Historiker Rudolf Schlögl stellt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen überhaupt eine Erfahrungssignatur der neuzeitlichen Gesellschaft dar und er schreibt über europäische Gesellschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts:
„Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Nebeneinander von tiefgreifender gesellschaftlicher Modernisierung und traditionalen sozialen Formen und Argumentationsmustern war Kennzeichnen einer Transformationsgesellschaft, die ihre Gestalt und ihre Modernität erst noch auf den Begriff bringen musste.“7
Ob das jemals gelingen kann, bleibt stark zu bezweifeln. Aber richtig ist, dass in Gesellschaft – und wir behaupten: auch in sozialen Milieus, Institutionen, Familien bis hin in die kleinsten sozialen Beziehungen des Menschen – jene Spannungskräfte einen gewichtigen, bestimmenden Anteil am Dasein des Menschen haben, von denen Schlögl hier ein kleines Zitat gab.

Wir fokussieren bei der Vorstellung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht auf das auch bei Heidegger vorherrschende Verständnis, dass Geschichte im Sinne von Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht und als Faktizität des Vergangenen für das Dasein eine gewisse Bedeutung impliziert.
Heidegger konstatiert, dass Geschichte für ein konkretes Dasein keineswegs einen ‚Restposten‘ bedeutet, ein quantitativer Abhub an Hinterlassenschaften, geistiger wie materieller sowie sozio-kultureller Errungenschaften. Und da für Heidegger das besorgende Erschließen des Daseins primäres Erkennen, also Auslegung ist, ist das Fremde, nicht von mir selbst geschaffene, kein nur Vorhandenes und als solches Gegenstand einer Feststellung, sondern das, womit man zwar zunächst nichts anfangen kann, das aber begegnet im Horizont des besorgenden Erschließens. Und die Frage, was es sei, ist das auslegende Fragen nach dem Wozu und kann letztlich von mir bejaht oder verneint werden.

Uns geht es bei der Vorstellung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen darum, dass, um es in Kategorien der Geschichtswissenschaften idealtypisch zu formulieren „Tradition und Moderne sich ineinander schieben, gleichsam wie zwei tektonische Platten bzw. „Zeitschichten“8, dass also
das Ungleichzeitige ein ebenso konstitutiver, wenn nicht der überwiegend bestimmende Anteil an Bedeutung im Dasein des Menschen ausmacht. Gerade die permanente Auseinandersetzung mit traditionellen gesellschaftlichen Kräften bestimmen im Kern die Freiheit wie deren Grenze, die keine Unfreiheit oder in Begriffen von Herrschaft und Knechtschaft zu beschreiben ist, sondern in der Freiheit des anderen, mithin in Geschichte besteht.

Soziologisch überschießend wird die Ungleichzeitigkeit als ein spannungsreicher, sozialer Widerspruch verstanden, da mit ihr „gegensätzliche Elemente (einer Gesellschaft, d. Verf.) in einem wesentlichen Zusammenhang stehen, Momente einer Einheit bilden, deren Identität und Bestand an diese Einheit von Gegensätzen gebunden ist.“9 Und notorisch idealistisch wie materialistisch in einem zieht die Soziologie sogleich die Rede von den Gegensätzen heran.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aber ist demgegenüber sowohl ein Gegensatz von konstitutiven Bedeutungen und sozialen Verhaltensweisen zeitlich differenten Ursprungs als auch eine Gemeinsamkeit von Strukturen und Interaktionen mit unterschiedlicher innerer Logik, Dynamik und eben Zeitlichkeit. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beschreibt eben nicht nur einen Gegensatz, bildet aber auch kein Moment der Einheit, des harmonischen Miteinanders. Sie beschreibt eine andauernde qualitative Verformung des alltäglichen Daseins, der gesellschaftlichen Gegenwart (in-der-Welt-sein) durch soziale Prozesse mit unterschiedlicher Zeitlichkeit.


Anmerkungen:

1 Heidegger-Gesamtausgabe Bd. 9, S. 114.

2 Heidegger-Gesamtausgabe Bd. 9, S. 118.

3 Heidegger-Gesamtausgabe Bd. 9, S. 116f.

4 Der dialektische Materialismus bedient sich der Dialektik Hegels, den man ruhig als geistigen Lehrer von Karl Marx bezeichne darf.

5 Søren Aabye Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode (1849) und
Søren Aabye Kierkegaard: Einübung im Christentum,1. Aufl. (1850), beide unter dem Pseudonym Anti-Climacus veröffentlicht.

6 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Werkausgabe Band 4, Erweiterte Ausgabe. Erste Auflage 1977, S. 104

7 Rudolf Schlögl: Alter Glaube und moderne Welt, S. 158

8 Vgl. Reinhart Koselleck mit Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik und Historik. Winter, Heidelberg 1987

9 Beat Rudolf Dietschy: Gebrochene Gegenwart, S. 166



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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